Flüchtlinge und Migrationsstrom nach Norden
Auf in eine rosige Zukunft. Viele Mexikaner träumen vom »American Dream«, vom Auswandern in das vielgepriesene Land. Bessere Jobs, höhere Verdienste und eine bessere Lebensqualität werden angestrebt. Die Migration zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten birgt seit jeher Konfliktpotenzial zwischen den beiden Ländern. Hinzu kommen zahlreiche Flüchtlinge aus den mittelamerikanischen Nationen, Migranten auf der Durchreise mit Fernziel USA. Doch der Weg über die Grenze ist beschwerlich und gefährlich, mitunter sogar tödlich. Unsere Autorin Dorothee Bliem hat sich der Thematik angenommen.
El sueño americano – Mexiko und der American Dream
¿No eres de aquí? – »Du bist nicht von hier?« – setzt in Mexiko oft den klassischen Startschuss zum Smalltalk, wenn die geografischen Wurzeln, so wie bei mir, offensichtlich wo anders liegen. Sie ist vielmehr eine Feststellung, hinter der sich dennoch einige Fragezeichen verbergen.
No, no soy de aquí – »Ich bin nicht von hier« – bestätigte ich mein Gegenüber stets, und erzählte, dass ich aus Österreich komme und mir Mexiko als Wahlheimat ausgesucht habe. Nun übernehmen meist andere Fragen das Ruder des Smalltalks: Fragen zum mexikanischen Essen zum Beispiel, oder zum angenehmen Klima. Manchmal tut sich aber auch eine tiefere Ebene auf. Nämlich dann, wenn meine Gesprächspartner beginnen, von ihren Auslandserfahrungen zu erzählen. Die Geschichten davon sind meist ziemlich dunkel und haben mit der meinen nur wenig gemein.
Ich war in der privilegierten Lage, mein Heimatland freiwillig und für eine gewisse Zeit zugunsten des kulturellen Austauschs verlassen zu dürfen. Belohnt wurde ich mit einer interessanten Arbeitsstelle, verhältnismäßig gutem Geld und dem Gefühl, willkommen zu sein. Damit ging es mir in Mexiko in zweierlei Hinsicht besser: Besser als vielen Mexikanern, die davon träumen, in den USA ein besseres Leben zu beginnen. Und besser als vielen Migranten aus mittelamerikanischen Ländern, die auf der Flucht vor Kriminalität, Armut oder Naturkatastrophen, tausende Kilometer zu Fuß zurücklegen.
Mexican Americans
Wer auf Facebook nach Gruppen für Auslandsmexikanern sucht, wird mit dem Scrollen nicht so schnell fertig. Gruppennamen, die mit »Mexicanos en..« (Mexikaner in..) beginnen, gibt es zuhauf. Teilweise haben sie mehrere tausend Mitglieder. Es gibt auch kaum ein europäisches Land, in dem sich keine mexikanische Community findet. Umso erstaunlicher scheint es, dass sie nur einen winzigen Prozentsatz der mexikanischen Auswanderer ausmachen: ganze 98% der mexikanischen Migranten leben in den USA.
In der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zog es speziell im 20. Jahrhundert viele Mexikaner in ihr Nachbarland. Im Rahmen des Bracero-Programms bekamen zwischen 1942 und 1964 ca. 5 Millionen Mexikaner die Möglichkeit, als Gastarbeiter in den USA zu arbeiten – hauptsächlich als Erntehelfer in Landwirtschaftsbetrieben. Viele der Gastarbeiter gingen jedoch nicht wie erwartet in ihr Heimatland zurück, sondern blieben in den USA. Somit haben sich inzwischen bereits einige Generationen an Mexican Americans gebildet. Die meisten davon leben in Kalifornien und Texas.
Einwanderung in die USA
Ab 1964 betrieb der nördliche Nachbar eine »no politics policy«: die Einwanderung wurde nicht überwacht, wodurch viele Mexikaner ohne Aufenthaltserlaubnis in die USA gelangten. Zwanzig Jahre später genehmigte der damalige Präsident Ronald Reagan den Aufenthalt von drei Millionen Mexikanern, sorgte gleichzeitig aber für strengere Grenzkontrollen. Dennoch stieg die Zahl unerlaubter Einwanderungen weiter an.
Im Zuge der Operation Gatekeeper unter Bill Clinton wurde in den 1990er Jahren bei San Diego ein 72 Kilometer langer Grenzzaun errichtet. Dieser Zaun wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September auf 1400 km erweitert. In unseren Breiten würde das dreimal der Strecke zwischen Berlin und München entsprechen. Donald Trump kündigte an, den Zaun auf 3200 km und somit auf die gesamte Grenze auszudehnen. Sein Vorhaben endete mit dem Amtseintritt von Joe Biden nach 727 km.
Der Weg über die Grenze
Neben den Grenzmauern trennen Wüsten, Berge und Flüsse die USA und Mexiko. Viele Menschen wollen über den 4 Meter hohen Grenzzaun klettern, scheitern aber auf ihrem Weg durch die mexikanische Wüste. Zwischen 400 und 500 Menschen verdursten dort jedes Jahr.
Wegen der zunehmenden Grenzüberwachung setzen viele Menschen auf Schlepper (Coyotes), um über die Grenze zu gelangen. Für einen Coyoten müssen allerdings erst die nötigen finanziellen Mittel aufgebracht werden: Pro Person verlangt ein Coyote mehrere tausend Dollar. Dafür kümmert er sich um gefälschte Dokumente und um den Grenzübergang. Genau wie Drogen und Waffen sind Menschen hier Schmuggelware.
Der Río Bravo (in den USA Río Grande genannt) bildet, von der Stadt Juárez im zentralen Norden bis zur Mündung in den Golf von Mexiko, eine natürliche Grenze zwischen den USA und Mexiko. Viele Menschen versuchen das teils nur kniehohe Wasser mit Schlauchbooten oder schwimmend zu überqueren. Wer Glück hat und es schafft, den Grenzschutz zu umgehen, findet in Zeltlagern und Flüchtlingsunterkünften eine erste Anlaufstelle. Wer erwischt wird, wird abgeschoben.
Mexikaner in den USA: Situation heute
Schätzungen zufolge leben ca. 11 Millionen Mexikaner ohne Aufenthaltsgenehmigung in den USA. Sie werden hauptsächlich in den Bereichen Gastronomie, Landwirtschaft bzw. als Reinigungskräfte oder Bauarbeiter beschäftigt. Von der Auswanderung profitiert sowohl die US-amerikanische als auch die mexikanische Wirtschaft: 2019 gingen mehr als 38,5 Milliarden Dollar als sogenannte Remesas (Geldsendungen) nach Mexiko. Sie machen ca. 3% des mexikanischen Bruttoinlandproduktes aus.
Über die letzten Jahre wurde die Zahl mexikanischer Einwanderungen in die USA rückläufig. Das liegt einerseits an verschärften Migrationsgesetzen: Viele Indocumentados (Menschen ohne Papiere), die schon lange in den Vereinigten Staaten lebten, wurden während der Trump-Ära abgeschoben. Daneben dämmen bessere Lebensumstände und Bildungsstandards in Mexiko den Migrationsstrom ein und verlagern ihn auf neue Gruppen: Inzwischen wandern auch viele hochqualifizierte Mexikaner wieder zurück in ihr Heimatland Mexiko aus. Beinahe ein Drittel aller promovierten Mexikaner lebt in den USA. Dennoch stammt der Großteil der Migranten noch immer aus niedrigen Bildungsschichten. Viele sprechen nur Spanisch und kaum Englisch, sie leben auch in den USA in Armut und ohne Krankenversicherung.
Flüchtlinge und Migrationsbewegung nach Norden
Obwohl die Zahl illegaler Einwanderungen aus Mexiko zurückgeht, ist die Situation an der Grenze weiterhin angespannt. Mexiko ist Durchzugsland für Flüchtlinge aus Guatemala, El Salavdor, Honduras, Nicaragua und Ecuador. Auch sie hoffen auf bessere Lebensbedingungen in den USA. 350’000 Menschen aus mittelamerikanischen Ländern wandern pro Jahr in die USA ein.
Viele von ihnen besteigen einen Güterzug, der umgangssprachlich La Bestia (die Bestie) genannt wird. Der Zug startet in Chiapas, nahe der guatemaltekischen Grenze, und endet in Mexiko-Stadt, von wo aus weitere Züge nach Norden verkehren. Die Reise mit La Bestia ist der schnellste, aber auch der riskanteste Weg in Richtung USA. Viele Flüchtlinge sterben auf ihrer Reise oder erleiden schwere Verletzungen, weil sie vom Zug fallen oder einen Tunnel übersehen. Auch das Risiko einer Entführung stellt eine große Gefahr für sie dar. Der empfehlenswerte Film »Sin Nombre« zeigt auf eindrückliche Weise die Dramaturgie der Migrationsroute durch Mexiko.
Auf Mexikos Straßen
Die Transmigration wird in Mexiko vor allem im Straßenbild sichtbar. Viele Migranten versuchen sich auf ihrem Weg in die USA als Autowäscher oder Straßenakrobat etwas dazuzuverdienen. Sie halten ihre Ausweise in die Luft, um ihre Herkunft deutlich zu machen. Und um den Menschen zu zeigen, dass sie sich mit den Almosen ihren Weg in die USA verdienen wollen. So als wollten sie sagen: »Keine Angst, ich bleibe nicht hier.«
Der Anblick der Menschen mit ihren Ausweisen hatte für mich einen ziemlich bitteren Beigeschmack. Diese Menschen zeigten mir, was für ein Glück ich hatte, nicht auf der Flucht zu sein. Jederzeit in mein sicheres Heimatland zurückkehren zu können. Und problemlos dort einreisen zu dürfen, wofür manche Menschen ihr Leben riskieren. Ich musste nicht von einem Leben in den USA träumen. Ich durfte das erleben, was vielen Mexikanern leider verwehrt bleibt: Un sueño méxicano – einen Mexican Dream.
Autorin: Dorothee Bliem
Quellen: kas.de, friedrich-verlag.de, migrationpolicy.org, internationalepolitik.de, blickpunkt-lateinamerika.de, geo.de, unique-online.de, bpb.de unter anderem.