Streifzug durch den mexikanischen Alltagsdschungel
Dorothee Bliem verbrachte zwei Jahre im mexikanischen San Luis Potosí. In ihrem »Streifzug durch den mexikanischen Alltagsdschungel« hat sie ihre skurrilen Alltagserfahrungen festgehalten. Mit dieser Leseprobe aus dem Buch »Diese Mutter ist voll Vater«, gewährt sie uns Einblicke in ihr erstes Kapitel und damit in ihren mexikanischen Auslandsaufenthalt.
Vom Wohnen etwas fürs Leben lernen
Im Januar 2017 stand ich erstmals vor der Tür, die von jenem Augenblick an das Tor zu meinen mexikanischen vier Wänden sein würde. Für mein Gefühl unterschied sich die Haustür Nr. 715 nur durch ein Stück weiße Kreide von all den anderen Haustüren der Calle Ignacio Comonfort im Zentrum von San Luis Potosí. Die Kreide steckte in einem zeigefingergroßen Loch und sollte uns Bewohner, so meine Vermutung, vor voyeuristischen Passantenaugen schützen.
Neben mir stand Hector, der Chauffeur des Centro Cultural Alemán, meiner zukünftigen Arbeitsstätte. Von einem Chauffeur vom Flughafen abgeholt zu werden, stellte ich mir aufregend und exklusiv vor. Hector kam jedoch nicht mit einem polierten Hochglanzschlitten angefahren, sondern mit einem klapprigen VW-Käfer. Auch Hectors Aufmachung entsprach nicht gerade dem Bild des klassischen Chauffeurs: Anstelle von Hut, Handschuhen, Anzug und Krawatte trug er ein lockeres Paar Jeans und ein Polohemd. Mein Austauschjahr war so richtig lanciert.
Klingel funktioniert nicht
Auf der Fahrt hatte mir Hector bereits von meinem zukünftigen Mitbewohner Salvador und dessen Renovierungskünsten erzählt. Die Kreide ließ nun durchsickern, dass diese »Renovierungskünste« wohl ihrer ganz eigenen Definition bedürfen. An der hölzernen Haustür prangte ein eiserner Türklopfer. Er war nicht nur zur Zierde, denn neben der Klingel klebte ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift: »Timbre no sirve« – ›Klingel funktioniert nicht‹. Die Klingel muss ihren Dienst schon vor längerer Zeit niedergelegt haben, denn der Zettel hatte bereits einige Regenfälle gesehen. Hector klopfte dreimal. Nichts passierte. Er klopfte weitere dreimal. Wieder nichts. Erst das fordernde »¡Holaaaaa!«, das er in die Ungewissheit hinter der löchrigen Tür schickte, setzte das Leben dort in hörbare Bewegung. Zwei Schlüsselumdrehungen entriegelten die Tür zu meinem neuen zu Hause für das Austauschjahr in Mexiko.
Meine mexikanische WG
Noch bevor ich die menschlichen Züge meiner zukünftigen Mitbewohner erahnen konnte, umhüllte mich eine dicke Rauchwolke, ein Gemisch aus Tabak und aromatischen Terpenen. Letztere sind für den charakteristischen Cannabisgeruch verantwortlich. Inmitten der Rauchwolke schlangen sich zweimal zwei Arme um mich und bestätigten, dass das Kreidestück inklusive mir mindestens zwei Frauen und einem Mann dienlich sein würde. Ich hörte die Namen Amelie und Salvador und hatte jetzt zumindest eine Stimme zum Renovierungskünstler und meiner deutschen Kollegin, von der mir mein Chef bereits erzählt hatte. Amelie war wie ich für ein Auslandssemester und Auslandspraktikum als Deutschlehrerin nach San Luis Potosi gekommen und wohnte seit einem halben Jahr mit Salvador und drei weiteren Mitbewohnern unter einem Dach. Wobei man das mit dem Dach nicht zu wörtlich nehmen darf. Neben Amelie und Salvador gab es noch den langgezogenen Carlos und sein optisches Gegenstück, den kleinrunden Norberto. Salvador teilte sich sein Zimmer mit seiner Freundin Rigel, benannt nach dem hellsten Stern im Sternbild Orion.
Grünpflanzen und WLAN-Router
Mein Begrüßungskomitee führte mich durch einen fünfzehn Meter langen, unüberdachten Gang, von dem links drei fensterlose Schlafzimmer abzweigten. Die rechte Wand war geziert von Aloe Vera und anderen, auch in Mexiko nicht ganz legalen, Grünpflanzen. Am Ende des Ganges hing über einer Tür ein WLAN-Router, den ich nur anhand seiner Antenne identifizierte. Um vor dem Regen geschützt zu sein, war das Herzstück des Routers in einen knittrigen Plastiksack gehüllt worden.
Der Guadarex
Die Tür führte in das belebteste Zimmer des Hauses. Wofür es bestimmt sein sollte, war meinem kategorisierenden Geist in diesem Moment noch nicht ersichtlich. Esszimmer? Oder Raucherzimmer? Arbeitszimmer? Malzimmer? Reines Durchgangszimmer oder schlichtweg Wohnzimmer? Die paar Quadratmeter wurden von einer querliegenden Tür auf zwei Tischblöcken fast komplett ausgefüllt. Drumherum zusammengewürfelte Stühle mit den ebenfalls zusammengewürfelten Freunden meiner Mitbewohner.
An der schmalen Wand erkannte ich die Umrisse der für Mexiko charakteristischen Virgen de Guadalupe. Dieses Gnadenbild der Maria findet man in jedem traditionsbewussten mexikanischen Haushalt. Der Legende zufolge erschien dem Indianer Juan Diego im Dezember des Jahres 1531 die Mutter Gottes, die ihn mit dem Bau einer Kirche beauftragt haben soll, der Basilica de Guadalupe. Acht Millionen Indios wurden innerhalb der darauffolgenden Jahre zum Christentum bekehrt. Die Basilica im Norden von Mexiko-Stadt ist heute ein beliebter Wallfahrtsort und das Marienbildnis allgegenwärtig. Für gläubige Katholiken wäre die Guadalupe an unserer Wand jedoch vermutlich ein blasphemischer Affront gewesen. Meine Mitbewohner waren nämlich gerade dabei, sie in einen T-Rex umzuwandeln, unseren Guadarex. Ein erstes Indiz dafür, dass mein mexikanisches Wohnerlebnis nicht ganz den traditionellen Standards entsprechen würde.
Ein spezieller Turm
Hinter diesem Zimmer mit dem Guadarex befand sich ein abstellkammerartiger Innenhof. Mein Blick blieb an einer riesigen, schwarzen Mülltonne hängen, deren Deckel durch die aufeinandergestapelten Müllsäcke bereits ziemlich hoch gewandert war. Da der Turm in sich zusammenzufallen drohte, packte Salvador eines der herausstehenden Säckchen und platzierte es ganz oben, über dem Mülltonnen-Mittelpunkt. Der Deckel wanderte weiter in die Höhe, doch der Turm stand. Im Müll-Jenga wieder eine Runde weiter.
Ominöser Spalt
Über den Innenhof gelangte man zu Bad, Küche und einem weiteren Schlafzimmer. Nach der durchlöcherten Haustür und dem bunten Türtisch war ich mir nun unsicher, was es mit der Badezimmertür auf sich hatte. War sie das Resultat künstlerischen Schaffens oder das traurige Ergebnis einer Fehlkalkulation? Die Tür reichte nicht bis an die Decke, sondern ließ, wie viele öffentliche WCs, nach oben hin einen ziemlich großen Spalt frei. Es ragte zwar höchstens Carlos’ Kopf darüber hinaus, doch wer neben der visuellen auch auf akustische Abgeschiedenheit Wert legte, tat gut daran, seine Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten.
Auslandsjahr ohne Gepäck?
Vom Innenhof führte eine steile Betontreppe zu meinem Zimmer. Es war das einzige Zimmer im Obergeschoss. Beim Anblick der Treppe war ich für einen kurzen Moment froh, dass es mein Gepäck nicht bis nach San Luis Potosi geschafft hatte. Laut Flughafenpersonal sollte mein Koffer zwar automatisch von Houston nach Mexiko weitertransportiert werden, doch am Ende erreichte ein Großteil der Passagiere San Luis ohne Gepäck. Hector zeigte sich darüber nicht weiter überrascht. Er hatte die Zeit am United-Airlines-Schalter schon einkalkuliert und half mir über meine noch ziemlich holprigen Spanischkenntnisse hinweg. Bis ich endlich den langersehnten Outfitwechsel durchführen konnte, sollte es jedoch eine geschlagene Woche dauern.
Nichts für schwache Blasen
Als ich die steile Treppe zu meinem Zimmer erklomm, machte mir am meisten meine schwache Blase Sorgen: Immerhin würde ich mich für jeden Toilettengang den gegebenen Wetterverhältnissen und 15 scharfkantigen Stufen aussetzen müssen. Schnee und Überschwemmungen hielt ich zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch für unrealistisch.
Umzug?
Als letzten Raum präsentierte mir Salvador nun mein Zimmer. Der Boden bestand zur einen Hälfte aus schlichtem Beton, zur anderen Hälfte aus einem hölzernen Podest. Dieses Podest diente anscheinend der Stabilität des Raumes, was ich vorsichtshalber nicht hinterfragte. Es bot Platz für mein Bett mit einer dicken, durchgelegenen Matratze sowie für einen kleinen Nachttisch mitsamt Nachttischlampe.
An Mobiliar gab es ansonsten einzig ein paar Holzbretter, die Salvador höchstpersönlich mithilfe einer Limettenpresse an die Wand genagelt hatte. Ein weiterer Vorgeschmack dessen, was mich in diesem Haus in Mexiko noch erwarten würde. Dass ich dort tatsächlich noch so vieles erleben würde, hätte ich anfangs nicht gedacht: Über die Rustikalität erschrocken, konnte ich mir nicht vorstellen, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Und obwohl ich noch nicht wusste, ob ich es mit meiner mexikanischen WG verhältnismäßig gut oder schlecht getroffen hatte, plante ich im Geiste schon meinen Umzug. Warum war ich also ein Jahr später immer noch da?
Reisetipps San Luis Potosi
Die Huasteca Potosina ist eine fantastische Naturlandschaft, mit spektakulären Wasserfällen, hübschen Badeseen im tropischen Wald und weitläufigen Höhlensystemen. Die ehemalige Silberstadt Real de Catorce liegt weit oben im Gebirge der Sierra Madre, eine wunderbare Region zum Ausspannen, Wandern und Reiten. Der englische Künstler Edward James erfüllte sich im Regenwald von Xilitla, im Osten von San Luis Potosi, seinen Traum einer surrealistischen Parkanlage, eine tolle und wenig bekannte Attraktion.
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»Diese Mutter ist voll Vater«
Titel: Diese Mutter ist voll Vater
Untertitel: Streifzug durch meinen mexikanischen Alltagsdschungel
Verlag: epubli
Autorin: Dorothee Bliem
ISBN: 978-3-7529-8093-6
Publiziert: 2020
Seiten: 188
Preis: ca. Euro 8.50
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Buchbeschreibung
Die Buchautorin Dorothee »Doro« Bliem sucht einen neuen Job und wird in Mexiko fündig. Sie zieht nach San Luis Potosi in eine Wohngemeinschaft, in ein Hippiehaus. Der Auslandsaufenthalt und der mexikanische Alltag stellen sie vor so manche verrückte Herausforderung. Doro erzählt von der wahren Bedeutung von Schokolade und warum Mexikaner das Bier mit Tomatensaft trinken. Die Autorin geniesst die Fahrt in einem uralten VW-Käfer und lernt über das Dating und Flirten der Mexikaner und warum man Kondome nur ungern am Kiosk besorgt. »Diese Mutter ist voll Vater« ist ein unterhaltsames Buch über das Auslandsjahr und das Leben in Mexiko.
Autorenvita
Dorothee Bliem, geboren 1992, studierte Sprachwissenschaft in Innsbruck und Amsterdam. 2017 brach sie für zwei Austauschjahre nach Mexiko auf, wo sich ihr Blick auf das vermeintlich Selbstverständliche drastisch veränderte. Seit ihrer Rückkehr vom Auslandsaufenthalt in Mexiko lebt sie wieder in Innsbruck.